Das Personal ist unterbewertet und unterbezahlt

René Porth
3 min readJun 14, 2022

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In einem Kommentar für Deutschlandfunk Kultur konstatiert die Autorin Susanne Gaschke, dass der ehemals hoch gehaltene Servicegedanke in vielen Branchen verschwunden sei, vielmehr habe sich eine Überheblichkeit des Personals breit gemacht.

Leere, an einen Tisch angelehnte Stühle in einem Gastro-Außenbereich
Photo by Mika Baumeister on Unsplash

Ich glaube nicht, dass das Überheblichkeit ist. Viel mehr beobachte ich eine “Scheißegal”-Haltung. Und ich kann das vollkommen verstehen. Ein Blick auf die andere Seite der Medaille.

Schnitt und Strähnchen für 260 Euro

Frau Gaschke zeigt sich irritiert über Friseurbesuche, bei denen Kund*innen trotz irrer Preise eher abfällig behandelt werden. Mich wundert das kein bisschen. Laut jobs-regional.de liegt das Durchschnittsgehalt von Friseur*innen bei 1.500 bis 1.750 Euro. Brutto. Netto bleiben bei Steuerklasse 1 und ohne Kirchensteuer noch 1.150 bis 1.300 Euro übrig.
Die 260 Euro, die eine Kundin für den Friseurbesuch auf den Tisch legt, sind ein Fünftel des Nettolohns der Friseur*in. Und beim Personal kommt oft nur ein Mindestlohn an. Dass da nicht der Servicegedanke im Fokus steht, sondern Frust, wundert mich kein bisschen.

Für 98 € von Frankfurt nach Barcelona

Airlines hätten längst aufgehört, sich für Verspätungen und der gleichen zu entschuldigen, konstatiert die Autorin, Passagiere würden wie lästiges Stückgut behandelt. Hier wird die Servicefachkraft als Personifikation der Fluggesellschaft verstanden, was im Sinne des Servicegedanken sicherlich nachvollziehbar ist. Aber realistisch betrachtet, kann die Dame am Schalter, kann der Herr an der Info wirklich gar nichts für die Verspätung oder ein verschwundenes Gepäckstück. Trotzdem muss sie oder er sich täglich aufs unflätigste von Passagieren beleidigen lassen. Für ein durchschnittliches Monatsgehalt von 2.500 Euro brutto (Quelle), also knapp 1.750 Euro netto. Wer bleibt bei dem Gehalt noch freundlich?

Es ist immer noch schwerer, Kellner zu finden als Gäste

An dieser Stelle zitiert die Autorin ein Meme, die vielfach geteilte Kreidetafel eines Kulmbacher Gastrobetriebes, mit der Aufschrift „Bitte seien Sie nett zum Personal. Es ist immer noch schwerer, Kellner zu finden als Gäste.“

Woran liegt das? Vielleicht daran, dass Servicepersonal oft gerade mal den Mindestlohn bekommen, weil es ja schließlich noch Trinkgeld gibt. Ein schlecht planbarer Teil des Gehalts, der aber bei Mindestlohn existenziell ist.

Genau deshalb hat die Pandemie die Kellner*innen heftig gebeutelt. Denn das Kurzarbeitergeld gab es nur für das Fixgehalt — nicht für das Trinkgeld. Und da liegt der Hase im Pfeffer: Viele Student*innen haben sich folgerichtig andere Nebenjobs gesucht. Schlechter kann die Bezahlung kaum werden, dafür winken in anderen Bereichen Homeoffice und flexible Zeiteinteilung.

Da braucht sich niemand wundern, dass der Cocktail, der mehr kostet, als der Stundensatz des Mindestlohns, ohne Schirmchen serviert wird.

Die Pandemie hat den Arbeitsmarkt verändert

Wir haben 2020 für medizinisches Fachpersonal geklatscht. Wir haben gelernt, dass Verkäufer*innen systemrelevant sind — und sie haben sich mit Textilmasken und ungeimpft an die Kassen gesetzt und die Regale aufgefüllt, weil wir Kiloweise Mehl und Klopapier benötigten. Hatten Mitleid mit den Pilot*innen, Flugbegleiter*innen und den Fachkräften im Gastrobereich. Und waren dankbar, als die Friseur*innen uns und unsere Politiker wieder frisiert haben.

Was hat sich seitdem geändert? Nichts.

Und auch das ist ein Grund, warum viele Angestellte aus diesen Branchen genervt und desillusioniert sind. Sie werden weiterhin von vielen Unternehmen mies bezahlt — und die Kund*innen sind keine Lobby für sie.

Wir waren nicht demonstrieren für gerechte Löhne. Wir haben keine E-Mails an unsere Bundestagsabgeordneten geschrieben. Wir haben überwiegend wieder die gleichen Parteien gewählt. Was sind die Servicekräfte uns schuldig? Nichts.

Das ist keine rein deutsche Bewegung. Die Reddit-Boards r/antiwork und r/workreform haben in der Pandemie enormen Zulauf gefunden. Dort lassen sich international Angestellte aus den hier genannten Branchen aus. Starbucks-Angestellte haben in den USA eine Gewerkschaft gegründet. John Deere wurde heftigst bestreikt. Amazon wehrt sich hartnäckig gegen Bestrebungen, Gewerkschaften zu gründen.

Der Kunde ist nicht mehr König, weil er es nicht verdient hat.

Wir brauchen uns nicht zu wundern. Seit Jahren behandeln wir so viele einst motivierte Servicekräfte wie Dreck. Und wir sind wirklich null solidarisch. Natürlich ist der Kunde da nicht mehr König. Wir sind als Kunden gefordert, nachhaltige Entscheidungen zu treffen und auch Preise zu hinterfragen. Wieviel bleibt von dem 260 Euro Haarschnitt beim Personal hängen? Warum erwarten wir von dem Service Agent der Airline eine Entschuldigung für Fehler, die schon im Top-Management entstehen? Und wie würden wir reagieren, wenn das Trinkgeld in Zukunft in die Speisekarte mit eingepreist wäre?

Dann wird der Kunde aber vielleicht wieder König.

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René Porth

38, strategy consultant, AI expert, tech enthusiast, diy musician and proud father